Der Austritt Litauens aus der Konvention über Streumunition: Ein gefährlicher Präzedenzfall für das humanitäre Völkerrecht
Am 6. März 2025 vollzog Litauen als erster Vertragsstaat überhaupt seinen Austritt aus der Oslo-Konvention zum Verbot von Streumunition und schuf damit einen gefährlichen Präzedenzfall. Dieser folgenschwere Schritt könnte andere Staaten ermutigen, ihre völkerrechtlichen Verpflichtungen zu überdenken – mit verheerenden Konsequenzen für die Zivilbevölkerung.
Die Argumente von Litauen für den Austritt sind bekannt - und halten einer genauen Analyse nicht stand. Streubomben sind nicht umsonst verboten: im Jahr 2023 stammten 93% ihrer Opfer aus der Zivilbevölkerung. Und der militärische Nutzen der Waffen wird immer wieder in Frage gestellt. Die Zivilgesellschaft und zahlreiche Staaten läuten Alarm gegen die schleichende Erosion der Konvention.
Eine Analyse von Streubomben.de
Das lesen Sie auf dieser Seite:
- Der Austritt ist vollzogen
- Chronologie des Austrittsprozesses
- Folgen für das humanitäre Völkerrecht
- Die verheerenden Auswirkungen von Streumunition
- Der fragwürdige militärische Nutzen
- Internationale Reaktionen und Appelle
Zuletzt aktualisiert am 06.03.2025
Der Austritt ist vollzogen
Am 6. März 2025 erfolgte der Austritt Litauens aus der Streumunitionskonvention, auch Oslo-Konvention genannt.
Damit ist Litauen der erste Vertragsstaat, der das Abkommen verlässt, das Einsatz, Handel, Weitergabe und Lagerung von Streubomben verbietet.
Die Entscheidung Litauens kommt zu einem kritischen Zeitpunkt. Das weltweite Verbot dieser Waffen ist unter Druck: In aktuellen Konflikten wie in Syrien und der Ukraine haben verbotene Streumunition und Landminen unzählige Menschen getötet oder verletzt. Die USA haben ihre eigenen Politik über Bord geworfen und liefern regelmäßig Streumunition an die Ukraine.
Handicap International (HI), Gründungsmitglied der Internationalen Koalition gegen Streumunition (CMC), spricht sich entschieden gegen die Entscheidung aus und fordert Litauen auf, diese erneut zu überdenken. Die Organisation unterstreicht die Bedeutung des gemeinsamen Engagements der Vertragsstaaten für die Konvention und ruft dazu auf, alle Versuche zurückzuweisen, verbotene Waffen wie Streumunition und Landminen zu legitimieren.
► Lesen Sie hier alles über Streumunition
Chronologie des Austrittsprozesses
Der Weg zum Austritt Litauens aus der Streumunitionskonvention umfasste mehrere entscheidende Etappen:
- 2023: Nach der erstmaligen Lieferung von Streubomben durch die USA an die Ukraine fordert der litauische Verteidigungsminister Arvydas Anušauskas einen Austritt seines Landes aus dem Abkommen. Die Regierung reagiert zunächst zurückhaltend.
- 11. Juli 2024: Der Gesetzentwurf zur Kündigung der Mitgliedschaft wird im Plenum des litauischen Parlaments vorgestellt und an den Ausschuss für auswärtige Angelegenheiten überwiesen.
- 16. Juli 2024: Der Entwurf und die Schlussfolgerungen des Ausschusses für auswärtige Angelegenheiten werden in der Plenarsitzung des Parlaments geprüft.
- 18. Juli 2024: Das litauische Parlament bestätigt mit überwältigender Mehrheit (103 Ja-Stimmen, 1 Nein-Stimme und 3 Enthaltungen) die Entscheidung der Regierung, aus dem völkerrechtlichen Vertrag auszutreten.
- 6. September 2024: Litauen reicht die offizielle Austrittsmitteilung bei den Vereinten Nationen ein.
- 6. März 2025: Gemäß den Regeln der Konvention tritt der Rückzug sechs Monate nach der Mitteilung in Kraft.

Folgen für das humanitäre Völkerrecht
Litauens Entscheidung ebnet den Weg für eine gefährliche Entwicklung. Sie könnte andere Staaten dazu ermutigen, ihre Verpflichtungen gegenüber humanitären Abrüstungsverträgen, insbesondere in Zeiten erhöhter Sicherheitsbedenken, zu überdenken. Diese Entscheidung untergräbt das weltweite Stigma gegen Streumunition - Waffen, die für ihre unterschiedslose Wirkung und langanhaltende Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung bekannt sind. Im Jahr 2023 waren 93% der Opfer von Streumunition Zivilistinnen (Streubombenmonitor 2024), darunter auch viele Kinder. Die Konvention muss verteidigt werden. Wir fordern die Vertragsstaaten auf, ihr starkes Engagement für diese Norm zu bekräftigen. Die Oslo-Konvention hat sich als wirksam erwiesen, um Zivilistinnen vor dieser wahllos wirkenden Waffe zu schützen.
Dr. Eva Maria Fischer, Leiterin der politischen Abteilung von Handicap International Deutschland.
Ein gefährlicher Präzedenzfall im Völkerrecht
Mit diesem Schritt betritt Litauen völkerrechtliches Neuland – noch nie zuvor hat ein Staat ein internationales Abkommen aufgekündigt, das eine komplette Waffenkategorie verbietet. Diese Entwicklung gefährdet nicht nur die Streumunitionskonvention, sondern erschüttert das gesamte Fundament des humanitären Völkerrechts, dessen Schutzbestimmungen über Jahrzehnte mühsam aufgebaut wurden.
Besonders beunruhigend ist die damit verbundene Botschaft: Dass völkerrechtliche Verpflichtungen zum Schutz der Zivilbevölkerung verhandelbar sind und in Krisenzeiten aufgegeben werden können. Dieser gefährliche Gedanke höhlt die grundlegenden Prinzipien des humanitären Völkerrechts aus. Wenn heute Streubomben wieder salonfähig werden – welche international geächteten Waffen könnten morgen folgen?
Die schleichende Erosion internationaler Normen
Litauens Entscheidung steht im Zusammenhang mit einer breiteren Erosion des Streubombenverbots. Die 2023 begonnenen US-Lieferungen dieser Waffen an die Ukraine wurden zunächst als vorübergehende Notlösung bezeichnet, bis alternative Munition verfügbar würde. Doch seither folgten weitere Lieferungen, begleitet von einem bemerkenswerten Schweigen vieler Vertragsstaaten.
Besonders besorgniserregend sind die Befürchtungen eines möglichen Domino-Effekts. Zahlreiche NATO-Mitglieder, die der Konvention angehören, waren seit über einem Jahr über Litauens Absichten informiert, ergriffen jedoch keine wirksamen diplomatischen Maßnahmen. Der Rückzug Litauens könnte einen gefährlichen Präzedenzfall schaffen und einen empfindlichen Rückschlag für die weltweiten Bemühungen gegen diese menschenverachtende Waffengattung schaffen.
Die verheerenden Auswirkungen von Streumunition
Streubomben wurden aus gutem Grund von der Mehrheit der Staaten weltweit verboten: Sie unterscheiden nicht zwischen Zivilist*innen und Kombattant*innen - und töten vor allem erstere. Zudem hinterlässt Streumunition eine tödliche Gefahr durch nicht explodierte Sprengkörper, die die Bevölkerung über Jahrzehnte bedrohen.
Bis zu 40% dieser Waffen detonieren nicht beim Aufprall und kontaminieren das Land mit gefährlichen Bomblets.
Der jüngste Streubombenmonitor von 2024 zeigt, dass 93% der Opfer von Streumunition Zivilist*innen sind, vor allem weil sie oft als nicht-explodierte Kriegsreste zurückbleiben und auch noch zuschlagen, wenn die Kämpfe bereits vorbei sind. Besonders alarmierend:
47% der Opfer von Blindgängern von Streumunition sind Kinder.
Die nicht explodierte Submunition ist oft gut getarnt und für Laien kaum erkennbar. Ein trauriges Beispiel sind die Millionen Reste von Streumunition in Laos. Unter Laub versteckt lauern tödliche Bomblets, die von der lokalen Bevölkerung entdeckt und gemeldet werden müssen, damit professionelle Räumteams sie entschärfen können.
Der fragwürdige militärische Nutzen
Der militärische Nutzen von Streumunition wurde in der Vergangenheit bereits öfter infrage gestellt. So stellte das britische Verteidigungsministerium im Kosovo-Konflikt (1998-1999) fest, dass der Einsatz von Streubomben nicht an das Gelände angepasst war und das gezielte Ausschalten einzelner Fahrzeuge die bessere Option gewesen wäre.
Während des Golfkriegs 2003 mussten US-Truppen ihren Vormarsch stoppen, da sie Gefahr liefen, ihre eigenen nicht explodierten Submunitionen zur Detonation zu bringen. Rund 100 Soldaten sowie 100 Minenräumkräfte wurden durch diese Blindgänger verletzt. Nach dem Golfkrieg bewertete die Dritte US-Infanteriedivision eine bestimmte Art von Streumunition (DPICM) als „Verlierer" und „Relikte" des Kalten Krieges.
Litauens Argumente
In Gesprächen mit Vertretern humanitärer Organisationen begründete das litauische Außenministerium den Austritt mit der verschärften Sicherheitslage in der Region. Die Regierung argumentierte, dass allein die potenzielle Verfügbarkeit von Streumunition nach dem Austritt aus der Konvention eine abschreckende Wirkung gegen russische Aggression entfalten könnte. In ihrer offiziellen Austrittsmitteilung behauptete die Regierung zudem, dass technologische Fortschritte bei modernen Streubomben das Risiko für die Zivilbevölkerung erheblich reduzieren würden.
Gegenargumente
Diese Argumente halten einer kritischen Prüfung nicht stand und dienen vor allem innenpolitischen Zwecken.
Die Realität zeigt: Auch moderne Streubomben weisen dieselben grundlegenden Schwachstellen auf wie ältere Modelle und führen zu denselben verheerenden humanitären Folgen, die ursprünglich zu ihrem Verbot führten. Die Komplexität ihrer Konstruktion führt unter realen Einsatzbedingungen unweigerlich zu weit höheren Versagensraten als unter kontrollierten Testbedingungen. Felduntersuchungen im Libanon nach dem Konflikt 2006 belegten, dass selbst Streubomben mit eingebauten Sicherheitsmechanismen wie Selbstzerstörungsfunktionen unter Kriegsbedingungen häufig versagten.
Da Litauen betont, Streumunition nur zur Verteidigung des eigenen Territoriums einsetzen zu wollen, sollte die Regierung bedenken, welche langfristigen Folgen dies für die eigene Bevölkerung hätte. Die Erfahrungen aus Laos, dem Libanon und der Ukraine zeigen deutlich: Selbst ein zeitlich begrenzter Einsatz von Streumunition verwandelt Landschaften für Jahrzehnte in gefährliche Zonen. Im Fall des Libanon führte der nur 34-tägige Einsatz von vier Millionen Submunitionen zu einer langfristigen humanitären und wirtschaftlichen Belastung, die bis heute anhält.
Ein verantwortungsvoller Umgang mit der eigenen Bevölkerung würde bedeuten, Teil der internationalen Mehrheit zu bleiben, die diese Waffen kategorisch ablehnt.

Internationale Reaktionen und Appelle
Angesichts der besorgniserregenden Entwicklung in Litauen setzte sich die Zivilgesellschaft gemeinsam mit zahlreichen Mitgliedstaaten der Konvention intensiv dafür ein, den Austritt in letzter Minute abzuwenden.
Aktivist*innen aus verschiedenen Ländern schrieben Briefe an Litauens Abgeordnete, forderten ihre eigenen Regierungen zum Handeln auf und suchten das Gespräch mit der Presse.
Handicap International Deutschland wandte sich in einem Brief direkt an Verteidigungsminister Boris Pistorius und Außenministerin Annalena Baerbock, um sie zu einem öffentlichen Statement zu bewegen. Leider blieben diese Bemühungen erfolglos.
Gemeinsame Verurteilung beim 12. Treffen der Vertragsstaaten
Beim 12. Treffen der Vertragsstaaten im Oktober 2024 formierte sich eine deutliche Opposition gegen Litauens Vorhaben.
Etwa zwei Drittel der teilnehmenden Staaten meldeten sich zu Wort und äußerten tiefe Besorgnis über den angekündigten Austritt. Mehr als die Hälfte richtete einen direkten Appell an Litauen, die Entscheidung vor dem Stichtag am 6. März 2025 zu überdenken. Parallel nutzten viele Delegationen die Gelegenheit, ihr ungebrochenes Engagement für die Konvention zu bekräftigen und sich für deren weltweite Verbreitung einzusetzen.
Auch fünf UN-Organisationen, das Internationale Komitee vom Roten Kreuz und zahlreiche zivilgesellschaftliche Organisationen veröffentlichten Stellungnahmen, in denen sie die litauische Entscheidung verurteilten.
Die Cluster Munition Coalition organisierte zudem eine Podiumsdiskussion, um die von Litauen angeführten Argumente zu widerlegen und die internationale Gemeinschaft an die Gründe zu erinnern, warum Streubomben heute nicht mehr als akzeptabler Teil moderner Waffenarsenale angesehen werden.
Der Abschlussbericht des Treffens der Vertragsstaaten spiegelte die gemeinsame Position der Vertragsstaaten wider: Die Versammlung "bedauert zutiefst" Litauens Entscheidung und "fordert nachdrücklich" eine Überprüfung des Austrittsbeschlusses. Darüber hinaus verurteilten die Vertragsstaaten "entschieden den Einsatz von Streumunition durch jeden Akteur unter allen Umständen" und bekräftigten, dass diese Waffen "sich als unzuverlässig erwiesen haben und unterschiedslose Wirkungen mit inakzeptablen Schäden verursachen". Trotz Versuchen einiger NATO-Mitglieder, diese klaren Formulierungen abzuschwächen, hielt der mexikanische Vorsitz an der deutlichen Positionierung fest.
Stärkung der Konvention durch neue Dialogformate
Als konstruktiven Schritt beschlossen die Delegierten, im Jahr 2025 Zwischensitzungen einzuführen, um auf aktuelle Herausforderungen zeitnah reagieren zu können. Zudem vereinbarten die Teilnehmer eine Dialogreihe, um sich mit den wachsenden Bedrohungen für die Konvention und andere humanitäre Abrüstungsverträge auseinanderzusetzen und Verbesserungsvorschläge für die Arbeit der Konvention vor der Überprüfungskonferenz 2026 zu entwickeln.
Das Bekenntnis zur Konvention über Streumunition darf kein Fähnchen im Winde sein.
Es muss in Friedenszeiten genauso wie in Kriegszeiten gelten. Die Menschen in Litauen und weltweit haben ein Recht darauf, ohne Gefahr vor Streumunition leben zu können.
Deshalb wird Handicap International weiterhin alles für eine starke Konvention und den Schutz der Zivilbevölkerung tun.
► Disclaimer: Dieser Text wurde unter anderem erstellt mit Materialien von www.icblcmc.org - der Website der internationalen Kampagnen gegen Landminen und Streumunition, die von HI mitgegründet wurden.
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